Zur Karriere von Gertrude Harrer
Welche waren die wesentlichsten Stationen Ihrer Karriere?
In den wirtschaftlich schwierigen Zeiten der dreißiger Jahre durfte ich eine private Mittelschule besuchen, wie es damals üblich war. Es handelte sich um eine hervorragend gute jüdische Schule, in der ich enorm viel lernte. 1938 wurde die Schule aufgelöst und ich wechselte in die Privatschule in der Billrothstraße, wo ich 1943 maturierte. Da ich nicht wußte, welchen Beruf ich wählen sollte, nahm ich eine Stelle als Ordinationshilfe bei Frau Dr. Domes an. Anläßlich eines schweren Unfalls, der sich am Kriegsende 1945 ereignete und bei dem ich mit Frau Dr. Domes die Erstversorgung durchführte, fiel die Entscheidung, Ärztin zu werden. Im Medizinstudium nach dem Krieg fehlten oft Lehrende mit entsprechender Qualifikation, man mußte viel selbst dazulernen, und ich war zudem teilweise Werkstudentin. Das Studium war nicht angenehm, aber sehr schön, ich promovierte 1954. Als junge, sogenannte Gastärztin, die unentgeltlich in Krankenhäusern praktizieren mußte, ohne versichert zu sein, war ich zweieinhalb Jahre im Dauereinsatz. Unter diesen schlecht abgesicherten Umständen gab es den ersten Ärztestreik in Wien. Nun war die Gemeinde Wien gezwungen, Verträge zu vergeben. Ich bekam meinen Arbeitsvertrag über ca. 1.200 Schilling im Februar 1957. Im Rahmen des Turnusdienstes blieb ich längere Zeit auf der Internen Abteilung, da ich von meinem Wunsch, Kinderärztin zu werden, abgekommen war. Ich leitete jahrelang eine Interne Ambulanz, was sonst Facharztsache war, bekam aber als Frau die angestrebte Fachausbildung nicht. Ich interessierte mich auch für Dermatologie und wechselte auf die Hautabteilung, wo die Dienstzeit jahrelang über 100 Wochenstunden betrug. Aber auch der dortige Chef war gegen Frauen und ich erhielt erst nach 4 Jahren eine Fachausbildungsstelle. Ich verlegte mich auf die interne Seite der Dermatologie, was besonders in der Allergieambulanz, die zahlreichen anderen Abteilungen diente, möglich war. Außerdem rief ich1975 eine Kosmetikambulanz ins Leben, weil kosmetische Unzulänglichkeiten zwar oft keine Krankheit an sich darstellen, aber großen Leidensdruck hervorrufen können. Diese Tätigkeit konnte ich nur in meiner Freizeit ausüben, was ich mit großem Engagement tat, obwohl ich mittlerweile schon das zweite Kind hatte. Ich arbeitete bis zu meinem 64. Lebensjahr. Bald nachdem ich 1989 in Pension gegangen war, starb mein Mann. Seitdem führe ich hobbymäßig eine Wohnsitzordination als Dermatologin, was bedeutet, daß ich die Familie behandeln und Privatrezepte ausstellen darf, ohne Ärztekammerbeitrag zahlen zu müssen. Diese Tätigkeit baue ich nun ab, weil mein jüngerer Sohn, der auch Arzt wurde, die Ordination in diesen Räumen führt. - Seit den Siebziger Jahren bin ich Mitglied der Organisation der Ärztinnen Österreichs, die sich der Gleichstellung der Frauen verschrieben hat. Frau Dr. Lore Antoine , die längjährige Präsidentin der Organisation der Ärztinnen Österreichs und der übergeordneten Medical Women International Organisation gründete nach ihrer Vereinstätigkeit ein Seniorenheim für ca. 100 Personen, das Haus der Ärztinnen im 10. Wiener Gemeindebezirk. Als Frau Professor Antoine vor 15 Jahren starb, übernahm ich die ehrenamtliche Geschäftsführung des Ärzteheims und habe seit sechs Jahren auch die Präsidentschaft inne. Mein zweites Standbein geht auf meinen Mann zurück. Er war ausgebildeter Masseur und hatte 1949 als Medizinstudent zu Ergänzung des rein theoretischen Studiums Massagekurse für Mediziner eingeführt, die sich großer Beliebtheit erfreuten.1957 übernahmen wir dazu eine benachbarte Kosmetikschule und gründeten die Wiener Schule für Körperpflege, bald die größte Schule dieser Art im deutschsprachigen Raum. Wir führten sie 40 Jahre lang. Bald waren wir international bekannt und hatten Schüler aus ganz Europa, aber auch aus Kanada, USA, Argentinien, Ägypten, Israel, Persien, Libanon u.a. Kosmetik wurde tagsüber, Massage und Fußpflege abends, in zunächst ein-, dann zweijährigen Lehrgängen, unterrichtet. 1975 - in der Kreisky-Ära - erhielten wir auf Drängen der österreichischen Schüler das Öffentlichkeitsrecht, was zur Folge hatte, daß das Unterrichtsministerium uns zahlreiche allgemeinbildende Fächer wie Religion, Deutsch, Staatsbürgerkunde u.a. vorschrieb, wofür wir AHS-Lehrer anstellen mußten. Das hatte zur Folge, daß zwar die Schülerzahlen laufend anstiegen - die Schüler erhielten Schülerbeihilfe, Freifahrt und Schulbücher - aber sämtliche ausländischen Schüler wegblieben, weil der Lehrstoff auf Österreich zugeschnitten war. Ich unterrichtete alle medizinischen Fächer, mein Mann Physik, Chemie, Apparatekunde und Massage. Unser jüngerer Sohn absolvierte als Medizinstudent die Massage- und die Fußpflege-Ausbildung und arbeitete in der Schule mit, was vor allem nach dem Tod meines Mannes 1989 hilfreich war. Da mein Sohn die Schule nicht übernehmen wollte, sondern eine medizinische Laufbahn anstrebte, schloß ich die Schule 1993. Als die Schule geschlossen war und meine Söhne in Beruf und Familie glücklich und erfolgreich waren, unternahm ich 1995-1999 zahlreiche caritative Fahrten in den Osten. Wir waren nur Frauen und fuhren - oft unter schwierigen Bedingungen - in mit Hilfsgütern vollgepackten Kleinlastwagen nach Rumänien, Moldavien und in die Ukraine. Als im Jahre 2000 mein Sohn Andreas an einem Hirntumor starb, verlor ich für längere Zeit meine Tatkraft. Vorigen Winter erfüllte mir mein Sohn Georg einen lang gehegten Wunsch: ich erlebte einen herrlichen Paragleitflug von der Gerlitzen auf den zugefrorenen Ossiacher See. Seither widme ich meine Freizeit wieder meiner Familie, besonders meinen Enkelkindern, die Freunde im Osten versorge ich per Post. Derzeit bin ich mit der Aufarbeitung der schulischen Unterlagen beschäftigt, weil sie dem Stadtschulrat noch 30 Jahre zur Verfügung stehen müssen. Die in unserer Studienzeit gegründete Kosmetikfirma PHYLATON besteht noch, wofür meine zahlreichen Stammkunden verantwortlich sind.